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Leben

Der Sehsinn ist beim Menschen dominant, doch was passiert, wenn man diesen nicht nutzen kann? Bericht über ein Abendessen im Dunkeln.

Ich ertaste zwei Gabeln, zwei Messer, einen Löffel und eine Serviette. Mitten auf dem Tisch finden meine Hände eine Flasche mit Flüssigkeit, die glücklicherweise verschlossen und recht schwer ist, sonst hätte ich sie vermutlich umgeworfen. Ein Glas erfühle ich auch. Es ist stockdunkel. Wir, meine Begleitung und ich, fragen uns, ob wir allein am Tisch sitzen. Da sich niemand meldet, tasten wir uns vorsichtig von einer Tischecke zur anderen: Wir sind nur zu zweit.

Das Auge nennen viele das wichtigste Sinnesorgan des Menschen; doch wie ist es, wenn man plötzlich darauf verzichten muss? Wie ergeht es Menschen mit einem eingeschränkten oder sogar gar keinem Sehsinn? Bei einem „Dinner im Dunkeln“, einem Abendessen in einem dunklen Raum, kann dies zumindest für eine kurze Zeit etwas nachempfunden werden.

Der Abend, veranstaltet von „Dialog im Dunkeln“, der in vielen Städten angeboten wird, beginnt mit einer kleinen Führung durch mehrere Räume, die unterschiedliche Gegebenheiten simulieren, wie etwa einen Park. Das Besondere: Die Räume sind vollkommen dunkel, es dringt überhaupt kein Licht hinein, und es gibt auch kein „Exit“-Schild. Zur Unterstützung erhalten die Teilnehmenden einen Blindenstock und eine kurze Information der Guides, die selbst blind sind: „Falls es jemandem schwindelig wird oder wer Panik hat, bitte sofort melden.“ „Falls der Stock aus der Hand fällt, ebenso.“ Einen wichtigen Hinweis bekommen wir noch mit auf den Weg: „Und ja nicht nach vorne bücken, wenn man den Stock aufhebt, sonst könnte man sich den Kopf stoßen.“

Unsere Gruppe besteht aus acht Personen, großteils junge Pärchen. Im Gänsemarsch geht es los, hinein in komplette Dunkelheit. Die Augen versuchen, krampfhaft etwas auszumachen, doch es ist nichts zu sehen. Vor mir fragt eine Frau: „Hast du deine Augen offen oder geschlossen?“ „Offen“, antwortet eine Stimme in der Nähe.

Alle folgen der Stimme des Guides. Er sagt, wo man sich festhalten soll und was als Nächstes kommt, etwa ein weicher Untergrund mit Rasen oder eine kleine Brücke. Besonders interessant sind die unterschiedlichen Geräusche, auf die man viel mehr achtet als sonst – einmal ein Vogelgezwitscher, dann das Rauschen von Wasser. Mit dem Blindenstock vor sich hin- und herschwenkend, der öfter als einem lieb ist die Vorderperson am Fuß erwischt, kommen wir zügig in den Raum, in dem das Dinner vorbereitet ist. Es war kaum Zeit, die Haptik der Wand, des Geländes oder des Bodens zu erforschen. Denn heute geht es vor allem um das Abendessen.

Augen

Der Sehsinn liefert rund 70 bis 80 Prozent aller Informationen über die Umwelt. Pro Sekunde nimmt ein Mensch etwa zehn Millionen Informationen über die Augen auf, nur ein Bruchteil davon wird bewusst wahrgenommen. Ohne Sehsinn müssen andere Sinne einspringen, vor allem die Ohren, Hände, die Nase und der Gaumen werden wichtiger.

Wir werden zu den Tischen geführt und bekommen zuerst eine Vorspeise. Der Guide gibt uns diese in die Hand, nachdem er sich mit einem „Hallo“ angekündigt hat, und unsere Hände sich in der Dunkelheit gefunden haben. Ich nehme den Löffel, um sicherzugehen, dass das Essen auch den Weg in meinen Mund findet. Die Konsistenz ist undefinierbar, ein bisschen mehlig, es sind größere Stücke zu kauen. „Was ist das?“, fragen wir uns. Wir einigen uns auf Tomaten und entdecken mit dem nächsten Bissen auch grünen Salat. So kosten wir uns Gang für Gang weiter. Auch an den Tischen in der Nähe verfolgen wir die Gespräche. Alle scheinen das Essen sehr bewusst zu erleben. Alle versuchen zu schmecken, was gerade kredenzt wird.

Plötzlich stellt sich eine Kellnerin vor. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass sie bei uns am Tisch steht. Wir bestellen Getränke. „Wasser steht auf dem Tisch“, meint sie noch. So versuchen wir in der Zwischenzeit, Wasser in die Gläser einzuschenken. Gar nicht so einfach zu merken, ob man hineintrifft oder wie voll das Glas schon ist. Geht man nur nach Geräusch oder wählt man die etwas unhygienischere Methode und steckt sicherheitshalber den Finger hinein? Erstaunlicherweise klappt es auch ohne den Finger als Messgerät. Die Ohren können doch recht gut am Gluckern abschätzen, wie voll das Glas ist.

Wir hören etwas auf den Boden klirren. Eine Stimme im Raum kommentiert: „Mir ist das Messer heruntergefallen.“ Ein Guide antwortet: „Dann hebe es auf.“ Allgemeines Lachen, denn nichts ist selbstverständlich in dieser für uns neuen Situation. Es ist schwer abzuschätzen, wie nah die Tische beieinander stehen. Die Augen versuchen immer wieder, etwas zu entdecken, aber das ist schier unmöglich. So hat man nur die Lautstärke der Stimme, um den Abstand zu schätzen. Sehr persönliche Gespräche führt ohnehin niemand, alle sind mit dem Essen beschäftigt.

Beim Hinausgehen ins Helle steht ein Tisch mit dem Essen, wie es zuvor serviert wurde. Es ist interessant zu überprüfen, ob der Geschmacks- und der Geruchssinn recht hatten. Grob haben alle erkannt, was sie gegessen haben, nur die feinen Nuancen waren schwieriger: „Ach, ich dachte, es war eine Topfencreme, dabei war es ein Erdbeerjoghurt“, sagt ein Mann.

„Ein spannender Abend mit neuen Erfahrungen“, stellt ein junges Paar fest, das die Speisen begutachtet. „Essen und sich gleichzeitig im Dunkeln zu unterhalten war aber anstrengend“, meint meine Begleitung. Ich kann nur zustimmen. Nach etwa zweieineinhalb Stunden bin ich wahrlich müde, vermutlich weil gänzlich andere Sinne als gewöhnlich im Einsatz waren. „Unglaublich, wie stark wir uns auf die Augen verlassen“, ist die einhellige Meinung „und wie flexibel und anpassungsfähig Menschen mit Sehbeeinträchtigung sind und ihre Sinne gänzlich anders einsetzen. Da kann man sich einiges abschauen.“


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"

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Ester Platzer

Ester Platzer

Ester Platzer, 1979, lebt in Wien und ist Mitglied der Chefredaktion bei Ursache\Wirkung. Davor lebte und arbeitete sie viele Jahre in Ostafrika. Ester absolvierte ihr Magisterstudium in internationaler Entwicklung an der Universität Wien.
Kommentare  
# Franziska Miller 2024-02-19 10:46
Ein faszinierender Einblick in eine Welt ohne Licht. Dieser Artikel hat mich dazu gebracht, meine Sinne neu zu schärfen und darüber nachzudenken, wie stark wir uns auf unser Sehvermögen verlassen. Vielen Dank für diese inspirierende Erfahrung!
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# peter Schneder 2024-02-19 10:46
Als jemand, der sein Sehvermögen für selbstverständlich hielt, hat mich dieser Artikel tief berührt. Es ist erstaunlich, wie Menschen mit Sehbeeinträchtigungen ihre anderen Sinne nutzen und sich anpassen. Ich werde diesen Beitrag definitiv mit meinen Freunden teilen, um ihr Bewusstsein zu schärfen.
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# ANNA 2024-02-19 10:47
Ich habe schon viel über "Dinner im Dunkeln" gehört, aber dieser Artikel hat mir eine ganz neue Perspektive eröffnet. Die Beschreibung der Erfahrungen während des Abendessens hat mir geholfen, mir vorzustellen, wie es sein könnte, auf meinen Sehsinn zu verzichten. Vielen Dank für diese einfühlsame und informative Darstellung!
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