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Ist der Start im Kleinen sinnvoll, wenn es um große Dinge geht, oder verbaut einem das eher den Blick auf die wesentlichen Stellschrauben und dient dann eigentlich vor allem dem eigenen guten Gefühl, ohne relevante Einschränkungen hinnehmen zu müssen?

MoonHee beantwortet hier Fragen des alltäglichen Lebens oder Fragen, die ihr schon immer einmal stellen wolltet. In ihrem ersten Beitrag „Wie geht es dir heute? Danke, gut!“ findet ihr mehr Informationen dazu.

Ist der Start im Kleinen sinnvoll, wenn es um große Dinge geht, oder verbaut einem das eher den Blick auf die wesentlichen Stellschrauben und dient dann eigentlich vor allem dem eigenen guten Gefühl, ohne relevante Einschränkungen hinnehmen zu müssen?

Beispiele aus meinem persönlichen Umfeld:
-Menschen verzichten auf Plastiktüten, können aber auf Reisen nicht verzichten und auch nicht auf schöne Möbel (alle paar Jahre neu) und fahren ein dickes Hybridauto (trotz besseren Wissens, weil die Steuer halt im Monat 250 Euro weniger beträgt).
-Menschen arbeiten sich an Konzepten wie kultureller Aneignung ab, sehen aber nicht die afrikanischen Arbeiter auf spanischen und italienischen Farmen.
-Tausend andere Ungerechtigkeiten, die man nicht mehr sehen muss, weil der begrenzte Raum bereits mit wirklich und ehrlich gut gemeintem, aber quasi wirkungslosem Kleinklein gefüllt wird.

Man könnte noch die Frage stellen, ob es dabei einen Geschlechterunterschied gibt.

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Antwort MoonHee:

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass alles Große im Kleinen anfängt – oder einfacher gesagt: Alles beginnt am Anfang und niemals in der Mitte oder am Ende. Auf Ursache folgt Wirkung und nicht Wirkung auf Ursache, jedenfalls wenn die Dinge ihren natürlichen Gang gehen bzw. wenn sie gesund anwachsen sollen. Ganz gleich, welche großartigen Dinge angestrebt werden, beginnen müssen sie immer im Kleinen. Dinge entstehen nicht ex nihilio (aus dem Nichts).

Der Mensch neigt zu Ungeduld, Selbstüberschätzung, Widersprüchlichkeiten, Selbstverleugnung und selektiver Wahrnehmung. Eine gefährliche Kombination. Die Folgen sind Zerstörung und Unmenschlichkeit – im Kleinen wie im Großen. Im Kleinen sich selbst und seinem unmittelbaren Umfeld gegenüber, im Großen auf gesellschaftlicher, politischer und globaler Ebene. Am Groß-Sein oder am Groß-Denken an sich ist nichts auszusetzen, falsche Bescheidenheit ist keine Tugend. Ambivalenter- und traurigerweise möchte der Mensch aber deshalb groß, besonders und einzigartig sein, weil er sich klein und mangelhaft fühlt. Doch jedes Lebewesen und sogar jedes Ding ist von Natur aus einzigartig, unwiederholbar. Nur der Mensch macht daraus ein Thema und muss sich dessen ständig vergewissern. So geht er mit seiner Einzigartigkeit hausieren, möchte Belohnung und Anerkennung dafür. Größe, Einzigartigkeit und Besonderheit sollen die innere Kleinheit und Unsicherheit vertuschen. Je größer wir uns aufspielen, auf dicke Hose machen, den großen Zampano geben, desto mehr wollen wir uns selbst beweisen, dass wir jemand sind. Der Soziologe Andreas Reckwitz fasst die moderne Gesellschaft als eine Gesellschaft von Singularitäten zusammen. Hier wird im Kampf um Sichtbarkeit und Einzigartigkeit das Leben nicht einfach gelebt, es wird kuratiert. Wer nicht einzigartig und besonders ist, ist wertlos. In einer Gesellschaft von Singularitäten performt jeder vor dem anderen – der andere wird zum Publikum. Facebook, Instagram, X (Twitter), TikTok, YouTube etc. bieten die idealen Plattformen dafür.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Das wissen wir und dennoch üben die Großen, die Reichen, die Schönen, Berühmtheiten und Machthaber eine Faszination auf uns auf. Selbst wenn wir ihr Treiben nicht als gut befinden, eifern wir ihnen nach. Wäre das anders, hätte der Kapitalismus längst ausgedient. Wie heißt es so schön: Love kills capitalism. Klimawandel, Umweltschutz, Artensterben, Ausbeutung, Rassismus, Diskriminierung, Migration und Gendering wären keine großen Themen. Liebe in ihrer Egalität schließt ein und nicht aus. Sie erblüht im Kleinen und entfaltet ihre ganze Kraft dort, wo Kleines auf Kleines (Einzelnes auf Einzelnes) trifft und miteinander zu einem größeren Ganzen verschmilzt.

Liebe ist im menschlichen Leben das Meistersehnte, jedoch ist und bleibt sie reine Sentimentalität, wenn sie an der Vernunft vorbeigeht. Ich vertrete die Meinung, dass die Liebe das Vernünftigste überhaupt ist. Liebe und Vernunft schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander. Hierin liegt der Unterschied zwischen Vernunft und Verstand. Der Verstand kommt ohne Liebe aus, die Vernunft aber braucht sie. Liebe und Vernunft bedürfen der Aufrichtigkeit und der Ehrlichkeit: Liebe und Vernunft vertragen keine Lügen. Was sagt das jetzt über uns selbst und unsere Gesellschaft aus?

Wir müssen innehalten und ehrlich sein. Es sind nicht nur die anderen schuld! Wir alle machen Fehler; wir alle machen mit oder eben nicht. Und bedauerlicherweise handeln wir widersprüchlich. Die Ursachen aktueller Weltprobleme sind nicht Mangel an Ressourcen, schlechte Politik, zu wenig Wissen oder fehlende Möglichkeiten; die wahren Ursachen liegen in Verdrängung, Ablehnung, Abgabe von Verantwortung und Inkonsequenz. Wir dürfen Ursachen und Wirkungen nicht vertauschen. Die selektive Wahrnehmung von uns selbst verhindert einen klaren und vernünftigen Blick auf Dinge und Ereignisse. Unsere psychologische Biografie kreiert einen Tellerrand, über den hinauszuschauen sich schwieriger gestaltet, als wir es vermuten. Wir alle miss- und verbrauchen Ressourcen. Ebenso wählen wir unsere Politiker oder unterstützen mit unseren Handlungen gewisse politische Systeme. Seriöses Wissen ist überall zugänglich, wenn wir statt Polemik nach Wahrheit suchen. Und Möglichkeiten müssen geschaffen werden, und zwar von uns allen und nicht nur von wenigen. Solange wir uns jedoch besser als die anderen wähnen – eine große Schwäche des Menschen ist, sich besser zu sehen, als er es in der Tat ist –, belügen wir uns selbst und halten daran fest, dass die anderen die Bösen sind: Ich mache doch nichts! Es sind stets die anderen, die sich falsch verhalten und engstirnig sind.

Die heutige Gesellschaft ist voller Gegensätze und Widersprüche. Kopflastigkeit, Kontrollsucht, Gleichgültigkeit gepaart mit irrationaler Emotionalität stellen die Geißeln des modernen Menschen dar. Trotz Wissenschaftshörigkeit sind Angst, Panikmache bis zur Hysterie und Hetzjagd erschreckender Alltag geworden. Die Angst, zu kurz zu kommen, übergangen, ausgenutzt und seiner Rechte beraubt zu werden, führt zu weitreichenden Lügen, Spannungen, Abgrenzungen und Konflikten innerhalb der Gesellschaft. Ganz nach dem Motto: Ich bin so emotionslos, ich könnte heulen, verurteilen wir Gott und die Welt und tun uns dabei selbst leid. Weil wir uns so elend fühlen, dürfen wir nehmen und haben und die anderen nicht. Jedes Mehr-Wollen im Allgemeinen und Mehr-Wollen als andere, kurz Gier, ist pathologisch und nicht normal, im Sinne von natürlich. Gier ist, wenn man mehr will als benötigt oder wenn das Große ohne das Kleine gewollt wird. Es gibt materielle und immaterielle Gier. Letzteres bleibt gerne unbeachtet. Allerdings ist die immaterielle Gier der Grund der materiellen. Weil wir uns unzureichend fühlen, wollen wir mehr sein und mehr haben, als es uns guttut. Mehr bedeutet Wettstreit und Kampf.

Was also groß erscheint, ist in Wahrheit klein. Besserwisserei, Rechthaberei, Wichtigtuerei, Intoleranz, Ablehnung und Abgrenzung stehen nicht für einen großen, sondern für einen kleinen Geist. Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung (beide gehen Hand in Hand), Gewalttätigkeit, Unmenschlichkeit und Kriege sind nicht durch und durch menschlich, sondern Anzeichen von pathologischer Störung. Allzu oft ist Kleinheit und nicht Größe der Antrieb für Ehrgeiz, Erfolg und Macht. Der wahrhaft große Mensch zeichnet sich im Gegensatz zum kleinen Menschen darin aus, dass er klein sein kann, ohne sich jedoch klein und schlecht zu fühlen. Folglich braucht er sich weder etwas zu beweisen noch muss er sich in den Vordergrund drängen. Die Größe des wahrhaft großen Menschen liegt in seiner Bescheidenheit, Genügsamkeit und Zurückhaltung. Weil er sich zugunsten anderer zurücknimmt, ist der wahrhaft große Mensch meist der unerkannte Mensch. Hingegen bleibt der kleine Mensch, ganz gleich, welch großartige Dinge er initiiert, immer klein. Seine ewigen Monologe und seine Großkotzigkeit im Fühlen, Denken und Handeln verraten ihn. Dem kleinen Menschen fehlen die Liebe und das Gefühl für das Kleine. Allerdings erschließt sich der wahre Wert der Dinge einzig und allein im Kleinen. Nur wer problemlos anerkennt, dass er klein ist, kann wachsen. In Shunryu Suzukis Buch Zen-Geist, Anfänger-Geist heißt es: „Im Anfänger-Geist gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten nur wenige.“

So, wie wir noch besser lernen müssen, das Falsche vom Richtigen zu unterscheiden, müssen wir lernen, was wahrhaftig groß ist und was klein. Wir wissen so viel und tun doch oft das Falsche. Es ist bekannt: Der Mensch ist ein widersprüchliches und in sich zerrissenes Wesen. Unser Fühlen, Denken und Handeln stellen selten ein harmonisches Miteinander dar. Wie oft fühlen wir etwas anderes, als wir denken, oder denken anders, als wir handeln? Der Mensch vermag so viel zu verstehen, nur nicht sich selbst. Das liegt wohl daran, dass manche Dinge geglaubt werden müssen, um verstanden zu werden. Das trifft vor allem auf den Menschen zu. Weil der Mensch wenig Glauben an sich selbst hat, wird er zum Hypokriten. Als Heuchler und Schwindler täuscht er sich selbst und andere. Da ein Leben im Falschen immer Falsches hervorbringt, ist das Leben im Als-ob-Modus unbefriedigend und mühsam. Vor allem ist es erniedrigend, weil man sich für etwas ausgeben muss, was man nicht ist. Man lebt also an sich selbst vorbei. Nicht sein zu können, wer man ist, führt zu Selbstverachtung und Selbsthass, was wiederum zu Verachtung und Hass gegenüber anderen führt. Egoisten und Narzissten sind Schwindler und Selbsthasser par excellence. Weil sie nicht sind, darf auch kein anderer sein. Wahres Mitgefühl und Empathie sind beiden fremd. Die Tränen, die beide weinen, gelten nur ihrem eigenen Schmerz. Beide sehen in allem eine potenzielle Gefahr und Bedrohung. Vertrauen, wahre Nähe und Optimismus können sie nicht zulassen, denn alles und jeder kann sich als Feind entpuppen. Weil Egoismus und Narzissmus zunehmen bzw. offensichtlicher werden, erfreuen sich Verschwörungstheorien einer immer größer werdenden Beliebtheit.

Die Gesellschaft wie der Einzelne krankt. Jegliche Art von Abgrenzung, Ablehnung, Dagegenhalten sind krankhaft. Da aber heute das Pathologische der Norm entspricht, erkennen wir das wahre Problem nicht. Der Psychologe Hans-Joachim Maaz spricht von der narzisstischen Normopathie. Der Psychoanalytiker Erich Fromm sprach von der Pathologie der Normalität. Unsere Gesellschaft ist krank; da wir es aber alle sind, bleibt die Krankheit unerkannt. Narzisstische Störungen zeigen sich darin, dass man nur das gelten lässt oder man nur das für wahr hält, was auf dem eigenen Mist (Defizite, Mangel) wächst. Narziss, der hochmütige und schöne Jüngling aus der griechischen Mythologie, verliebte sich nur deshalb in sein Spiegelbild, weil er sich selbst darin nicht erkannte. Seine Selbstverliebtheit galt somit nicht ihm selbst, sondern der Täuschung, ein anderer zu sein. Der Schmerz der Narzisst*innen ist der Schmerz über die Trennung zu sich selbst. Wer mit sich selbst nicht eins ist, ist mit niemandem eins. Kürzlich veröffentlichte die Universität Münster eine Studie, dass Männer und junge Erwachsene narzisstischer sind als Frauen und Ältere. Die Lügenforschung berichtet Ähnliches: Junge Menschen und Männer lügen im Allgemeinen mehr als ältere Menschen und Frauen. Dafür leiden Frauen derzeit doppelt so häufig an Depressionen als Männer. Frauen sind weder die besseren Menschen noch sind sie innerlich stabiler. Das menschliche Verhalten ist stark soziokulturell geprägt. In einer patriarchalischen und kapitalistischen Gesellschaft dominieren Wettbewerb, Profit, Wachstums-, Konkurrenz- und Machtdenken. Wer die dicksten Eier hat, hat das Sagen. Ehrlichkeit, Anstand, Gefühle und Selbsterkenntnis sind hier nicht zielführend. Ob eine Gesellschaft von Männern oder von Frauen geführt wird, ist einerlei. Nicht auf das biologische Geschlecht kommt es an, sondern auf die richtigen Werte. Solange wir an den gleichen falschen Werten festhalten, wird das Patriarchat weiterbestehen. Wollen wir wirkliche Emanzipation und Gendergleichheit, müssen Patriachat oder Matriarchat sowie väterliche oder mütterliche Eigenschaften als geschlechtsunspezifische Prinzipien verstanden werden. Nicht alle Frauen besitzen mütterliche Eigenschaften und nicht alle Männer väterliche. Manchmal sind Väter die besseren Mütter und Frauen die besseren Väter. Wir sollten nicht vergessen: Primär sind wir Menschen, das Geschlecht ist sekundär. Der seelisch gesunde Mensch empfindet sich in erster Linie als Mensch; alles andere kommt danach.

Ein gesund angewachsenes Selbst ist offen und lässt sich beeinflussen, aber nicht bestimmen. Ebenso ist ihm das Gemeinwohl genauso wichtig wie sein eigenes Glück. Größe ereignet sich nie im Alleingang, durch Wollen oder bewusstes Intendieren. Wahrhaftig groß wird man nur durch Gemeinschaft. Indem wir einander fördern, kann Großes geschehen. Halten wir uns jedoch gegenseitig klein, unterdrücken andere und sprechen anderen ihre Rechte ab, bleibt auch das scheinbare Große, auch wenn es anders ausschauen mag, nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe. Weil das Große in Wirklichkeit nicht auf wahrer Größe beruht, geschehen auch keinen wirklichen Veränderungen – nicht bei uns selbst und nicht in der Welt. Der Sieg gilt nicht dem Einzelnen, sondern all denen, die (aneinander) glauben.

 

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Bilder Teaser und Text© Pexel
Bild Header © Sigurd Döppel 

Dr. phil. MoonHee Fischer

Dr. phil. MoonHee Fischer

„Was eines ist, ist eines. Was nicht eines ist, ist ebenfalls eines.“ (Zhuangzi) Jenseits eines dualistischen Denkens, im Nichtgeist, gibt es weder das Eine noch ein Anderes. Wo das Eine sich von einem Zweiten abgrenzt, ist keine Einheit, sondern Zweiheit. Die Erfah-rung des Einen – ich bin al...
Kommentare  
# Lukas Mischel 2023-12-15 18:40
Reflexion der 'alles bin ich'-Idee in Religionen?
Ich interessiere mic h sehr dafür, wie die Vorstellung, dass alles Teil eines größern Ganzen ist, in verschiedenen religiösen Traditionen verankert ist. Mein Ziel ist es zu verstehen, wie diese Idee sich in den vielfältigen Facetten der Religionen zeigt und welche Bedeutung sie für das individuelle spirituelle Verständnis hat.
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# MoonHee 2023-12-28 16:08
Lieber Herr Mischel,
vielen lieben Dank für ihr Interesse. Ich würde gerne auf ihre Frage antworten, aber dieses Thema ist sehr komplex. Könnten Sie ihre Frage konkretisieren? Von Sri Nisargadatta gibt es ein Buch mit dem Titel "Ich bin". Mein Buch "Wir erleben mehr, als wir begreifen" geht auf den Begriff der Fülle in verschiedenen mystischen Traditionen ein. Da werden Sie zu dem Thema „All-Einheit“ auch fündig. Herzliche Grüße MoonHee Fischer
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