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Achtsamkeit & Meditation

Die Umgebung beobachten, sich selbst verorten, in Beziehung treten – all das ist ohne den Einsatz der Sinne ziemlich unmöglich.

Wie sinnlos wäre das menschliche Leben ohne das Schmecken, Hören, Riechen, Fühlen, Sehen und ohne die Eigenwahrnehmung, auch Propriozeption genannt? Wie das kleine Wortspiel es schon andeutet: ziemlich sinnlos. Denn die sinnliche Wahrnehmung macht es allen Lebenden erst möglich, an der Welt teilzuhaben, mit anderen zu kommunizieren, zu genießen, zu berühren, sich zu bewegen, zu verstehen, zu denken, ja sogar sich zu erinnern.

Natürlich ist es möglich, auf einen Sinn zu verzichten, wie es viele tun müssen, die blind, taub oder nicht oder nur eingeschränkt schmecken oder riechen können. Aber wäre ein Mensch aller seiner Sinne beraubt, existierte er schlichtweg nicht. Es gäbe weder einen Bezugspunkt zur Umwelt, sei es geistig oder körperlich, noch ihre Wahrnehmung. Eine rein geistige Existenz bleibt derzeit noch eine Vorstellung in unseren Köpfen, und diese sind bekanntermaßen ebenfalls Teil des Körpers.

Die menschliche Wahrnehmung

Ein tiefer Blick in die Sinne, genauer die sensorische Reizempfindung und ihre Verarbeitung im Nervensystem, lehrt einiges über das menschliche Bewusstsein, seine Begrenzungen und seine Möglichkeiten. Zunächst eine kurze Vorstellung der Sinne, da es auch in der Wissenschaft verschiedene Ansichten gibt.

Hier soll es um sechs Sinne gehen, zum einen die bekannten fünf: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen. Zum Zweiten kommt die oben bereits erwähnte Propriozeption hinzu, die Teil der Interozeption ist, der Wahrnehmung von innen. Die Propriozeption ist jener Teil der Wahrnehmung, die über Rezeptoren in Muskeln, Gelenken und Faszien die Lage des Körpers im Raum und die Lage der Gliedmaßen zueinander an das Nervensystem meldet. Ohne diesen Sinn könnte ein Mensch nicht einmal ein Glas mit Wasser greifen, geschweige denn es zum Mund führen, um daraus zu trinken.

Reizüberflutung überall

In der heutigen Welt ist der optische Sinn der größten Reizbelastung ausgesetzt, man kann tatsächlich von Überbelastung sprechen: Bildschirme aller Art, Werbung, Fernsehen bestimmen das tägliche Leben des modernen Menschen. Fast ebenso stark wird der Hörsinn strapaziert: Allerlei akustische Signale, von Bau- und Straßenlärm bis hin zu Dauerbeschallung durch Musik oder dem körpereigenen Tinnitus als an Anzeichen von „zu viel um die Ohren haben“, sorgen für ein heftiges Grundrauschen im Alltag.

Die Reizüberflutung zieht, neben dem weitverbreiteten Tinnitus, noch weitere gesundheitliche Probleme nach sich: von Konzentrationsstörungen über Bluthochdruck bin hin zu Depressionen, um nur einige zu nennen. Das menschliche Nervensystem besitzt zwar die überlebensnotwendige Fähigkeit, Reize auszuwählen, um es zu entlasten. Inmitten der Kakophonie der modernen Welt geht jedoch dieses ausgeklügelte System in die Knie.

Doch wie funktioniert die Selektion von Reizen? Ein hochinteressanter Teil des Gehirns, der Thalamus, wird in diesem Zusammenhang von der Wissenschaft als „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet. Der Thalamus wählt aus, was die Hirnrinde und somit das Bewusstsein erreichen darf. Im Allgemeinen wählt der Thalamus Bekanntes aus, da das menschliche Gehirn auf Energieeinsparung und Effizienz ausgerichtet ist. Unbekanntes wird gefiltert, um das Hirn nicht zu belasten.

Wahrnehmung

Den Achtsamkeitsmuskel stärken
Doch niemand ist dieser Selektion einfach nur ausgeliefert – hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Durch Selbstbeobachtung und Reflexion ist es möglich, die Filter des Thalamus zu erkennen und die Wahrnehmung zu erweitern. Die sensorischen Empfindungen bieten ein weites Feld, sich der eigenen Wahrnehmung gewahr zu werden.

Das menschliche Gehirn dürfte das einzige Organ sein, das sich selbst erforscht. Unterstützung erfährt es dabei durch eine seiner erstaunlichsten Eigenschaften: die Neuroplastizität. Diese sorgt dafür, dass beim Erlernen neuer Bewegungen, Gedankengänge oder Sprachen – schlicht von allem, was der menschliche Geist erfassen kann, neuronale Verbindungen entstehen. Dies ist sogar bis zum Tod möglich. Dem Alterungsprozess des Gehirns kann also entgegengewirkt werden.

Meditation vermehrt eindeutig, so weisen es Studien nach, die graue Masse, die hauptsächlich aus Nervenzellen und ihren Verbindungen besteht. Achtsamkeit, die sich natürlicherweise einstellt, wenn man regelmäßig meditiert, macht es möglich, die Selektion des Thalamus zu beeinflussen. Wie dies funktioniert, kann durch Sinnesübungen, wie etwa „Von rechts nach links“, erfahren werden, siehe Kasten.

Eine andere spannende Möglichkeit, einen Sinn zu trainieren, ist es, sich einen Tag lang auf den Tastsinn, etwa die Haut, zu konzentrieren. Die Haut ist das größte menschliche Sinnesorgan mit den meisten Rezeptoren, die sensorische Reize aufnehmen und an das Nervensystem weiterleiten. Sie trennt und verbindet Menschen.

Das sogenannte haptische System, also der Sinn, der wahrnimmt, ob man berührt wird oder jemanden berührt, umfasst nicht nur diesen physiologischen, sondern auch alle psychologischen Prozesse, die damit zusammenhängen. Die sanfte Berührung einer Mutter beim Streicheln ihres Kindes, das Wohlgefühle bei beiden auslöst, gehört ebenso dazu wie die Empfindung von Schmerz beim Erleben von Gewalt und dem nachfolgenden Schock.

In der Übung „Unter die Haut gehen“ können diese beiden Bereiche ausgelotet werden: Es geht nicht nur um das Berühren oder das Empfangen von Berührung im körperlichen, sondern auch im psychischen Sinne – um die achtsame Wahrnehmung aller emotionalen und mentalen Reaktionen.

 

Von rechts nach links

Wenn Sie Rechtshänder sind, versuchen Sie einen Tag lang möglichst viele Tätigkeiten, die Sie normalerweise mit der rechten Hand ausführen, mit der linken Hand zu machen: schreiben, eine Tasse heben, sich am Kopf kratzen. Sind Sie Linkshänderin, gilt dies natürlich umgekehrt. 

Legen Sie Ihre Achtsamkeit in diese simple Übung: Entwickeln Sie Geduld mit sich, beobachten Sie, wie Sie reagieren, wenn Bewegungen nicht sofort gelingen, beobachten Sie Ihre Gefühle, entdecken Sie, wie Sie sich selbst bewerten.

Auf diese Weise, insbesondere wenn Sie diese Übung mehrere Tage hintereinander in den Tagesablauf einbauen, werden sich Synapsen im Gehirn bilden, die Schritt für Schritt die Bewegungen mit der linken Hand erleichtern und sie geschmeidiger machen. So erfahren Sie an einem einfachen Beispiel Neuroplastizität und die Macht der Achtsamkeit.

Unter die Haut gehen

Versuchen Sie einen Tag lang, Ihre Achtsamkeit immer wieder auf Ihre Haut zu richten: zu allem, was Sie in die Hand nehmen, mit den Fingern anfassen, die Kleidung, die Ihre Haut berührt, der Wind, der Ihr Gesicht streift. Spüren Sie bewusst Temperatur, Form oder Textur von allem, mit dem Sie in Kontakt kommen. Stärken Sie Ihre Sensibilität in den Fingern und im Handrücken, nehmen Sie bewusst Alltagsgegenstände in die Hand, schließen Sie die Augen. Die Möglichkeiten sind endlos, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf – oder einfach das Leben auf sich zukommen.

Im Sinne der Achtsamkeit und des Anfängergeistes üben Sie dabei, sich von Vorstellungen und Konzepten, die Sie an Gegenstände gebunden haben, zu lösen. Lassen Sie die erlernte Erwartung, dass ein Gegenstand kalt oder warm, weich oder hart sein wird, die Empfindung, ob er Ihnen sympathisch oder eher zuwider ist, los.

Wie fühlt sich das an? Können Sie die Emotionen spüren, die durch Berührungen entstehen, die Assoziationen, die Ihr Geist aufruft, wenn Sie berührt werden, egal ob von einem anderen Menschen, vom Wasser beim Händewaschen oder von Stoff auf Ihrer Haut?

 


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung №. 121: „Mit allen Sinnen"

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Inga Heckmann, Yogalehrerin, Autorin, Musikerin und Redakteurin.

Illustration © Francesco Ciccolella

Bild Header © Unsplash

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